Reizdarmsyndrom (Colon irritabile)

Diagnostik

  • Reizdarmsyndrom (RDS) liegt vor, wenn folgende 3 Punkte erfüllt sind (3)
    • Es bestehen chronische, d. h. länger als 3 Monate anhaltende oder rezidivierende Beschwerden (z. B. Bauchschmerzen, Blähungen), die von Patienten und Arzt auf den Darm bezogen werden und in der Regel mit Stuhlgangsveränderungen einhergehen
    • Die Beschwerden sollen begründen, dass der Patient deswegen Hilfe sucht und/oder sich sorgt, und sie sollten so stark sein, dass die Lebensqualität dadurch relevant beeinträchtigt wird
    • Voraussetzung ist, dass keine für andere Krankheitsbilder charakteristischen Veränderungen vorliegen, die wahrscheinlich für diese Symptome verantwortlich sind
  • Symptomatik
    • Chronisch rezidivierende Beschwerden mit diffusem schmerzhaften und geblähten Abdomen und Bauchkrämpfen, die periodisch auftreten und von unterschiedlicher Intensität sind
    • Unterschiedliche, wechselnde Konsistenz des Stuhls (von Durchfall bis Obstipation)
    • Imperative, repetitive Defäkationen
    • Defäkation bringt Erleichterung, bei Nahrungsaufnahme oder Stress nehmen die Beschwerden zu
    • Lange Vorgeschichte ähnlicher Symptome
    • postinfektiöser Symptombeginn
    • Ausschluss von Warnzeichen (red flags, s. Abschnitt Alarmzeichen)
  • Psychosoziale Anamnese (v. a. Angst, Depression, Stress)
  • Berufsanamnese
  • Medikamentenanamnese
    (Antibiotika, NSAR, PPI, SSRI, Statine, Laxativa sind mit Entwicklung/Verschlimmerung der Symprtome assoziiert)
  • Ernährungsanamnese
  • Familienanamnese (chronisch entzündliche Darmerkrankung?)
  • Alter > 50 J.
  • (Eisenmangel-)Anämie
  • Neu aufgetretene Beschwerden
  • Gewichtsverlust
  • Blutiger Stuhlgang

Diagnostik

  • Umfassende Anamnese inkl. red flags
  • Ev. Stuhlprotokoll und Symptomtagebuch
  • Körperliche Untersuchung
    Palpation Abdomen, ggfls. rektale Untersuchung (bei Stuhlveränderungen und Blut ab ano obligat), extraintestinale Veränderungen an Augen, Gelenken, Haut
  • Labor: Hämatogramm, BSG
  • Ev. Abdomen-Sonographie und/oder Röntgen Abdomen (Frage nach latenter Obstipation mit paradoxer Diarrhö)
  • Bei Frauen gynäkologische Untersuchung inkl. Vaginalultraschall (Endometriose, Ovarialzysten, Ovarial-Ca?)

Nach Symptom

Abklärungen

Differentialdiagnose

Diarrhö

Labor

Transglutaminase-Antikörper, Gesamt-IgA, Ferritin, Vitamin B12
Insbesondere bei anamnestischer Auslösung/Verschlimmerung der Beschwerden durch Getreideprodukte

Zöliakie

TSH

Hyperthyreose (selten)

Stuhl-Panel auf infektiöse Erreger
–> s. Abklärungs-Algorithmus GL Akute Diarrhö

Infektiöse, chronisch verlaufende Enterokolitiden

Calprotektin im Stuhl

Chronisch entzündliche Darmerkrankung

Abklärung Kohlenhydratmalabsorption

Diätetischer Auslassversuch
1–2 Wochen keine Milch und Milchprodukte, anschliessend Milch-Provokationstest

Laktoseintoleranz

In Einzelfällen Laktose-H2-Atemtest, Fruktose-H2--Atemtest

FODMAP-Intoleranzen (Laktose-/Fruktoseintoleranz)

Koloskopie

Wenn Calprotectin erhöht ist und Infektiöse Genese ausgeschlossen ist: Bei Patienten mit Durchfall > 4 Wochen

Colitis ulcerosa, Morbus Crohn
Mikroskopische Kolitis (Biopsieentnahme), paradoxe Diarrhö bei Kolon-Ca

Malabsorption

Pankreas-Elastase
Nur bei anamnestischen Hinweisen auf chron. Pankreatitis

Chronische Pankreatitis, Pankreasinsuffizienz
(–> s. a. GL Abdominalschmerzen)

Probatorische Behandlung mit Cholestyramin
Nur bei Hinweisen auf chologene Diarrhö

Idiopathische oder postoperative Gallensäuremalabsorption (70–90 % sprechen sofort auf Cholestyramin an)

Obstipation

Labor

TSH

Hypothyreose (selten)

Koloskopie

Bei allen Patienten ab 50 J. (wenn Obstipation neu aufgetreten)

Kolon-Ca, stenosierende Divertikel

Blähungen

Kohlenhydrat-Malabsorption 

Diätetischer Auslassversuch (s. Diarrhö)

Laktoseintoleranz

Ev. Laktose-H2-/Fruktose-H2-Atemtest in Einzelfällen

Laktose-/Fruktoseintoleranz

Schmerzen

Labor und Stuhl

Calprotektin im Stuhl

Chronisch entzündl. Darmerkrankungen

Porphyrine, Porphobilinogen (PBG) und Aminolävulinsäure (ALA) im Anfalls-Urin
nur bei entsprechenden klinischen Hinweisen!

Porphyrie
(–> siehe GL Abdominalschmerzen)

C1-Esterase-Inhibitor im Serum
nur bei entsprechenden klinischen Hinweisen!

Magen-Darm-Attacken bei Angioödem

Gastroskopie

 

Bei relevanten epigastrischen Beschwerden

Ulkuskrankheit (siehe GL Funktionelle Dyspepsie, GL Ulkuskrankheit/H. pylori-Infektion und GL Abdominalschmerzen

Bildgebung

CT Abdomen
Bei Patienten < 50 Jahren und anderen Fragestellungen als Malignomen MRT Abdomen bevorzugen
(–> s. GL Bildgebende Untersuchungen)

GI Tumore, Ovarial-Ca, Stenosen, mesentereale Ischämie

Hinweis: Mikrobiom-Analysetests haben zur Zeit keine klinische Relevanz und sollten nicht durchgeführt werden!

Wenn die Abklärung keine Hinweise auf eine andere Erkrankung ergeben hat, sollen Patienten eine symptomorientierte Behandlung und Beratung erhalten

Therapie

Allgemeine Beratung

  • Patienten beruhigen und über die Harmlosigkeit/Gutartigkeit des RDS aufklären
  • Den Betroffenen soll das Krankheitsbild erklärt werden, z. B. als Störung der Darm-Hirn-Achse. „Der Darm ist unser 2. Gehirn und hat mehr Nervenzellen als das Gehirn“
  • Therapieplan besprechen und realistische Erfolgsaussichten formulieren, den Plan bei Bedarf individuell im Verlauf anpassen
  • Nutzen von Ernährungsumstellung und Stressbewältigung hervorheben
  • Patienten über den probatorischen Charakter eines medikamentösen Therapieversuchs aufklären
  • Zu (mehr) körperlicher Aktivität anregen

Ernährungsberatung

  • FODMAP-Diät wird bei Patienten mit Schmerzen, Blähungen und Diarrhö empfohlen – unter Anleitung einer Diätberaterin, FODMAP-Diät kann auch bei Patienten mit Obstipation als Leitsymptom versucht werden
  • Bei einigen Patienten kann ein Verzicht auf blähende Speisen sinnvoll sein, wie z. B. auf Hülsenfrüchte (Erbsen, Bohnen, Linsen), Zwiebeln, Knoblauch, Sellerie, Kohl (Blumen-, Rosenkohl) sowie Trauben, Bananen, Aprikosen, Pflaumen, Brezeln und Bagels
  • RDS-Patienten mit Laktoseintoleranz sollten eine laktosearme Diät einhalten
  • Ballaststoffe und Obst können problematisch sein, da sie zu Gasbildung führen. In löslicher Form (s. Tabelle in Kapitel „Medikamente“) können sie jedoch hilfreich sein

Massnahmen zum Schutz des Mikrobioms

  • Ballaststoffreiche und/oder fermentierte Nahrungsmittel; ausgewogene Ernährung mit unverarbeiteten und saisonalen Produkten, Zucker und Salz einsparen
  • Genügend Flüssigkeit, keine zuckerhaltigen Süssgetränke
  • Verzicht auf hochverarbeitete (industrielle) Lebensmittel, die häufig ungesunde Zusatzstoffe enthalten
  • Keine Nahrungsergänzungsmittel und keine Diäten ausser in spezifischen Situationen (z. B. Vitamin B12-Ersatz bei veganer Ernährung) oder spezifischen Morbiditäten (z. B. glutenfreie Ernährung bei Zöliakie)

Rationaler, zurückhaltender Gebrauch von Antibiotika (insbesondere bei nicht gefährlichen Infektionen) – und keine „Therapie“ eines gestörten Mikrobioms mit Antibiotika oder Fungistatika

Substanz

Präparat (Beispiele)

Anmerkungen

Lösliche Ballaststoffe

 

Metamucil, Normacol, Flohsamenschalen
Beginn 3–4 g/Tag mit 1 Glas Wasser vor dem Zubettgehen

·     Normacol verursacht erfahrungsgemäss weniger Blähungen als Metamucil und Flohsamen

Loperamid

Imodium lingual
¼–½ Tbl. vor der Mahlzeit

·     Möglicherweise bei einigen Patienten Zunahme abdominaler Beschwerden in der Nacht

Gallensäurebinder
Colestyramin

Quantalan
½–2 Sachets/Tag 

·       Bei Hinweisen auf chologene Diarrhö
–> Die Behandlung sollte innert 3 Tagen ansprechen!

Substanz

Präparat (Beispiele)

Anmerkungen

Plyethylenglykol (PEG)-Lösungen (osmotische Laxanzien)

Molaxole, Movicol, Transipeg
1 Beutel 1–4 x tgl. 

 

Laxantien vom Macrogoltyp

Macrogol
1–2 Sachets tgl. in 125 ml Wasser gelöst

·     Verbessern Defäkationsfrequenz und Stuhlkonsistenz; Schmerzintensität, Blähungen werden jedoch kaum beeinflusst

Paraffin

Paragol
3–9 Messlöffel (> 12 J.) vor dem Schlafengehen

·     Nicht während Schwangerschaft und Stillzeit

Bisacodyl

Dulcolax Bisacodyl
1–2 Tbl oder 1 Zäpfchen vor dem Schlafengehen

·     NW: Abdominale Krämpfe und abdominale Schmerzen, Übelkeit, Diarrhö

·     Nicht während der Schwangerschaft; in der Stillzeit erlaubt

Substanz

Präparat (Beispiele)

Anmerkungen

Pfefferminzöl

Carmenthin/Colpermin Kps
1 Kps. morgens + mittags mind. 30 min vor dem Essen

·     Bei Schmerz und Blähungen

Phytotherapeutikum STW 5

Iberogast
3 x tgl. 20 Tr.

 

·     V. a. bei Blähungen

·     Wirkung tritt verzögert ein

·     Reevaluation nach 2 Monaten

·     NW: Lebertoxisch (selten, aber gravierend), nicht bei Patienten mit Leberschäden einsetzen!

Spasmolytika

Mebeverin (Duspatalin retard) 2 x tgl. 1 Kps.

Pinaverin (Dicetel)
3 x tgl. 1 Tbl.

 

  • Psychotherapeutische Verfahren sind indiziert bei schweren, ansonsten therapieresisten Beschwerden sowie bei begleitenden psychischen Erkrankungen, aber auch auf Patientenwunsch
    • Psychoedukative Elemente („kleine Psychotherapie") und angeleitete Selbsthilfestrategien (z. B. mithilfe eines Patientenhandbuchs oder internetbasierter Selbsthilfeprogramme) – auch beim Hausarzt
      (–> s. a. FS Körper-Stress-Syndrom)
    • Strategien zur Stressvermeidung und/oder Krankheitsbewältigung (Coping)
    • RDS-spezifische kognitive Verhaltenstherapie kann eine wirksame Behandlung für alle RDS-Symptome sein
    • Körpertherapie und bauchgerichtete Hypnose (Gut-directed Hypnosis)

Komplementärmedizinische Verfahren sollten unterstützt werden, wenn der Patient diese favorisiert (obwohl eine Evidenz für deren routinemässigen Einsatz fehlt)

  • Biofeedback (v. a. bei dysfunktionaler Defäkation und bei Blähbauch
  • Akupunktur
  • Viszerale Osteopathie
  • Yoga
  • Shiatsu

Vollversion

Autoren: Dr. med. U. Beise

Änderungsdatum: 09/2024

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